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Zeitenwende tut Not

28. September 2022

Wir wissen nichts – das ist unsere Chance!

Wir wissen nichts – das ist unsere Chance!
Georg Steinberger, Vorsitzender des FBDi

Quelle: 70 Jahre »Elektronik« 20.2022 – Jubiläumsausgabe
Jubel, Jubel – 70 Jahre »Elektronik«, hurra!
Kommentar von Georg Steinberger, Vorsitzender des FBDi

70 Jahre an Innovation und Ingenieur-Meisterleistungen. Doch was haben wir als Industrie erreicht?
Krass zum Klimawandel beigetragen? Toll!
Den Computational Overkill à la Internet und Bitcoin gefördert? Super!
Die Jugend verschreckt mit unserer Inno­va­tions- und Wachstumsgläubigkeit? Wow!

Wie wäre es mit einer Zeitenwende auch für unsere Industrie?
Eine Darstellung aller wichtigen Innovationen, mit denen die Elektronikindustrie, speziell die Halbleiterei, die Welt in den vergangenen 70 Jahren geradezu revo­lu­tio­niert hat – dazu bräuchte es ein Buch.

Weit ist sie gekommen, vom ersten Transistor der Bell-Labs Forscher Bardeen, Brattain und vor allem William Shockley (1947), bis zum 1 Terabit Flash Memory, vom ersten integrierten Schaltkreis des Ingenieurs Jack Kilby bei TI (1958) bis zu Multicore Prozessoren mit 100 Milliarden Transistoren und einer Rechen­leis­tung, die alle Vor­stel­lun­gen eines halbwegs technisch interessierten Menschen weit übersteigt. Erstaunlich, nicht?

Aber: Als ich zum 50- und 60-jährigen Jubiläum der Elektronik meine Lobeshymnen für diese innovative Industrie – und natürlich auch die Zeitschrift Elektronik – geschrieben habe und die unglaublichen technischen Errungen­schaf­ten, die sie ermöglicht hat, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal eine »alar­mis­tische« Tonlage wählen würde.

Denn Fluch und Segen der Innovation liegen eng beieinander: Es ging uns nie so gut (trotz Corona, Krieg und Wirtschaftskrise), wir hatten nie so viel technische Mittel zur Verfügung wie jetzt – und trotzdem stehen wir als Menschheit und als wachstums­orien­tier­te Leis­tungs­gesell­schaft am Rande eines selbst geschaffenen Abgrunds.

Dabei haben wir eine Wahl: Welche Klippe wollen wir hinunterspringen? Klimawandel, Autokratie, Ressourcenverschwendung, Überbevölkerung, soziale Ungleichheit?

Scherz beiseite (schön wär‘s): Nach mehr als 70 Jahren mit geradezu erstaunlichen Quan­ten­sprüngen in der Mikroelektronik – und das Beste kommt noch, wenn man die Roadmap des weltweit führenden (euro­pä­ischen!) Halbleiter-For­schungs­zen­trums IMEC ansieht – muss man sich ernsthaft fragen: Was hat’s gebracht und wie geht’s weiter?

Ist Innovation, wie wir sie kennen, das Allheilmittel oder Teil des Problems? All diese Fragen haben sowohl eine technische wie eine gesellschaftliche / wirtschaftliche / ökologische Dimension, die man vor dem Hintergrund unseres menschlichen Schaf­fens sehen muss. Und die Antworten spielen möglicherweise eine zentrale Rolle in der Lösung diverser Zukunftsprobleme. Ob und wie, das hängt sehr stark von uns ab, egal ob Boomer, Generation XYZ, Millennial oder Digital Native. Stichwort Zeiten­wende.

Hightech als Teil des Problems

Die sollte mit einem Geständnis beginnen: Wir – das ist die Hightech-Industrie mit­samt ihren verschiedenen Zweigen, von den Chip­her­stel­lern bis zu den Entwicklern von KI-basierter Spionagesoftware – haben keine Ahnung, was wir machen oder besser gesagt anrichten. Das ist aber vielleicht die Chance auf eine neue Entwicklung, auf eine neue Richtung, die man unserer Industrie geben müsste.

Natürlich geht das nur im Kontext und Kon­sens mit der Gesamtgesellschaft, denn die Wurzel des Übels ist nicht die »Innovation«, sondern die Art und Weise, wie wir Menschen unser Habitat bewirtschaften: Mit dessen sukzessiver Zerstörung, getrieben durch welche auch immer schlechte Eigenschaft, die uns innewohnt (die Auswahl ist reichlich).

Lassen Sie mich in meiner Argumentation mal davon ausgehen, dass die Innovation unserer Industrie ein Teil des Problems ist. Sie hat zwar zu mehr Komfort beigetragen, aber eine eher negative Umweltbilanz. Sie treibt einen gigantischen Ressourcen­verbrauch und Energiebedarf, da jeder der derzeit acht Milliarden Menschen und bald (2050) zehn Milliarden Menschen sein Leben in der gleichen Würde und dem gleichen Komfort leben will wie wir: Auto, Smartphone, Entertainment etc.

Die Folgen eines »weiter so« sind klar ab­zu­sehen. Und obwohl viele Staaten sich zu Klimazielen bekannt haben, so sind sie auf dem Weg dahin bisher nicht weit ge­kom­men. Im Gegenteil, es wird eher schlimmer, bevor es besser wird. Und Klima bzw. CO2 ist ja nicht das einzige Thema, das wir haben: Der Ver­brauch an wichtigen Ressourcen (z. B. Metalle) nimmt zu, unter Inkaufnahme einer desaströsen Um­welt­zerstörung allenthalben. Zehn Milliarden Menschen, die so leben wie wir? Hmm ...

Um dies zu ermöglichen, ohne den nächsten 500 Generationen von Menschen – von der Fauna und Flora gar nicht erst zu reden – die Lebensgrundlage zu entziehen, bedarf es einer anderen Wirtschaftsweise und auch einer anderen Einstellung zur Innovation.

Innovation ist das, was uns die Lebens­grund­la­gen erhalten hilft bei gleich­zei­ti­ger Schonung von Ressourcen und Umwelt.

Ein der Kapitalismuskritik unverdächtiges Organ, die Universität der Bundeswehr, in dem konkreten Fall Professor Axel Schaffer vom Institut für Entwicklung zu­kunfts­fä­higer Organisationen, München, hat in einem Vortrag eine Definition der starken Nachhaltigkeit gegeben:

»Im Konzept der starken Nachhaltigkeit darf das Naturkapital nur in dem Maße genutzt werden, wie andere funktional gleichwertige natürliche Ressourcen geschaffen werden.« und weiter: »Wachstum hat keinen Selbstzweck und kann unter Nachhal­tig­keits­gesichts­punk­ten nur gerechtfertigt werden, falls dadurch die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung erreicht werden.«

Grünes Wachstum als Leitmotiv?

Bei einer Diskussion im FBDi vor mehr als einem Jahr, in der es um die Entwicklung unserer Industrie, aber auch der Technologie als solches ging, kamen wir zu folgendem Schluss:

Der nächste disruptive Fortschrittszyklus, nach der heute dominanten Infor­ma­tions­technik, muss von einer »echten grünen« Innovation getragen werden, die den Namen auch verdient, weil sie radikal auf Sparen, Effizienz und Recyclen setzt. Wir nannten es Cleantec 2.0, weil das, was heute unter Cleantec läuft, meist nur lineare Verbesserung bedeutet und keinesfalls zu einer massiven Änderung unserer miesen Umweltbilanz beiträgt.

Wie wäre es damit: Ein sicheres, selbst­fah­ren­des Fahrzeug, das maximal 500 kg wiegt, zu 90 % aus recyceltem Material besteht und eine minimale Umweltbelastung ver­spricht; eine Solarzelle, die 80% Energieeffizienz erreicht und nicht mit prekären Materialien wie Arsen arbeitet; eine grüne Chemie ...

Ich darf wieder Professor Schaffer zitieren: »Aller Voraussicht nach werden die Umwelt­probleme durch grünes Wachstum jedoch nicht gelöst. Hierzu müsste es zu einer nicht ab­seh­ba­ren absoluten Entkoppelung von Wachstum und Umweltverbrauch kommen (...).«

Auch wenn grünes Wachstum ein Wett­be­werbs­vor­teil und eine »Arbeits­platz­ma­schine« sein könnte, ist es leider so, dass viel zu wenig passiert, um einen Unterschied zu machen. Innovation ist genauso wie Wachstum kein Selbstzweck mehr, sondern muss in viel stärkerem Maße einem echten Nach­haltig­keits­ge­dan­ken unterliegen.

Um zurück auf die Elektronik und ihre In­no­va­tions­kraft zu kommen: Trotz aller technischen Meisterleistungen ist der Beitrag zur Be­he­bung der globalen Umwelt­misere über­schau­bar. Darauf zu warten, dass der 100-Pico­me­ter-Quantenprozessor (die ent­spre­chen­de Wafer-Fab wird wahrscheinlich 250 Milliarden Dollar kosten) in 2052 alle Probleme beseitigt, wäre wohl naiv.

Innovation, und speziell die Innovation un­se­rer Branche, muss wieder in der Mitte der Gesellschaft ankommen, mit dem Anspruch, die Welt besser zu machen, als wir sie vor­ge­fun­den haben.
Einige werden sagen, »so ist es doch«, ver­ges­sen dabei aber den Trade-off, den wir ein­ge­gan­gen sind auf dem Rücken der Um­welt.

Wie geht das in einer Zeit, in der kaum noch jemand den Ingenieurberuf ergreifen will und hunderttausende Boomer-Ingenieure in den Ruhestand wollen? In der das Inge­nieur­stu­dium nicht mehr automatisch zu ge­sell­schaft­li­chem Aufstieg führt, wie das noch vor 50 Jahren der Fall war? In der keine Mond­landung junge Menschen inspiriert, sich mit Tech­no­lo­gie oder Naturwissenschaften zu be­schäf­ti­gen? In der Technologie zu abstrakt wird, als zu ursächlich für unsere derzeitigen Heraus­for­de­rungen gesehen wird? In der zwischen Smartphone und Ego nichts mehr zu passen scheint?

Dialog der Generationen

Keine Ahnung, aber ich mache trotzdem einen Vorschlag: Der britische Physiker und Wis­sen­schaftsjournalist Brian Cox sagte kürzlich in einem Podcast (nicht wörtlich, aber sinn­ge­mäß), dass uns das Eingeständnis, dass wir nichts wissen, wieder auf den Pfad der Erkenntnissuche zurückbringen könnte, weg von der reinen Wachs­tums­gläu­big­keit. Worauf ließe sich Erkenntnissuche denn besser anwenden als auf die Erhaltung unseres Lebensraums?

Gerade wir Älteren stolpern derzeit in Selbstüberschätzung und Hybris durch die Welt, meinend, alles zu wissen, und sehen nicht die verbrannte Erde, die wir hinterlassen. Der Konflikt mit unseren Nach­folge­gene­ra­tionen, der sich hier auftut, wird damit nicht unbedingt kleiner. Wie wäre es denn, wenn sich diejenigen unter uns, die glauben, dass nachhaltige Innovation einen Unterschied machen könnte, daran machen, den Dialog mit den Jüngeren zu suchen – ohne diesen die Welt erklären zu wollen – um herauszufinden, wie denn ihre Vision, ihre Utopie einer le­bens­wer­ten und nach­hal­ti­gen Welt aussieht und ihnen helfen, diese zu gestalten?

Ich denke, dieser Dialog findet kaum oder gar nicht statt, sonst würden wir nicht einem Ingenieurmangel epischen Ausmaßes ent­ge­gen­blicken.

Um junge Menschen – aller Altersstufen – zu überzeugen, sich mit Technologie zu be­schäf­tigen, die kompliziert, abstrakt und aufwendig ist (beim Erlernen wie beim Erforschen), muss man erst mal viele Brücken überschreiten, von denen eine wack­li­ger ist als die andere, Erfolg nicht garantiert: Demut vor der eigenen Ah­nungs­losig­keit, Glaub­würdig­keit, Begeiste­rungs­fähig­keit, Dialog­fähig­keit, Hart­näckig­keit, Commit­ment und nicht zuletzt Aufgabe von ein wenig eigener Bequem­lich­keit. Will heißen: Länger arbeiten; raus an die Schulen und erklären; Patenschaften über­neh­men usw.

Was würde ich also gern in der Elektronik im Jahr 2052 lesen?

Deutschland hat seine »verschärften« Kli­ma­ziele, Energie- und Umweltziele erreicht. Es hat durch eine beispiellose Inno­va­tions­of­fen­sive, die nach 2022 gestartet ist und im Lauf von 30 Jahren zwei Dutzend Nobel­preis­trä­ger in Physik, Chemie und Mathe­ma­tik hervorvge­bracht hat, Technologien entwickelt, die auch vielen anderen Ländern geholfen haben, ihre Auswirkungen auf die Umwelt drastisch zu reduzieren;

Deutschland wurde zum beliebtesten, ersten Rassismus freien Staat in den Vereinten Nationen, der Einwanderer aus aller Welt anzieht und ein Mekka der Human Tech­no­logy Research ist; Berlin, Hamburg und München sind die ersten »natürlichen« Smart Cities der Welt mit kostenlosem Nahverkehr, er­schwing­li­chen Wohnkosten für alle und Partnerstädten in aller Welt, denen »Future Urbanity« Tech­no­lo­gien und Tech­no­lo­gie­kon­zepte kostenlos zur Verfügung gestellt werden; der größte deu­tsche Halb­leiter­her­stel­ler, gleichzeitig der größte Halbleiterhersteller der Welt, weiht seine erste 1-Ångström-Chipfabrik bei Mün­chen ein; die Recycling-Quote für alle in­dus­tri­ell ge­fer­tig­ten Produkte liegt bei 99 %; den restlichen Platz lasse ich frei für Ihre Lese­wün­sche...

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