Schaltstelle oder Nadelöhr?
20. Oktober 2023
Seit es Komponenten-Distributoren gibt, wurde deren Existenz immer wieder mal in Frage gestellt. Distributoren sehen sich als die Demand Creator für den Massenmarkt, mancher Kunde dagegen als das Nadelöhr in der »Big Shortage«. Beides ist ein bisschen richtig. Und greift im Hinblick auf die Zukunft zu kurz, denn die Distribution könnte mehr sein.
Seit ich die Bauelementedistribution kenne, verfolge ich mit Staunen die Diskussion um ihren Wert, zumal sie in der gleichen Zeit ihre Rolle im Markt nicht nur festigen, sondern ausbauen konnte.
2022 stellte ein Rekordjahr im Umsatz dar, in den ausgelieferten Mengen und im Unmut mancher Kunden. In Allokationszeiten kommt dies sicherlich häufiger vor, deshalb erscheint es mir viel wichtiger, nicht auf Einzelkritik einzugehen, sondern die generelle Rolle der Distribution zu beleuchten.
Wie hat sie sich verändert, wie muss sie sich weiter verändern, um relevant zu bleiben?
Was waren die Merkmale der Bauelemente-Distribution vor 20, 25 Jahren? Nachdem die erste Welle der Konsolidierung und Pan-Europäisierung abgeschlossen war, erlebten wir eine Professionalisierung von Geschäfts- und Logistikprozessen mit Hilfe von Business Software und Warenwirtschaftssystemen, genossen ein starkes Vertrauen der Hersteller in ihre Distributoren-Netzwerke, was die Akquise neuer Kunden betraf, zeigten hohe technische Kompetenz mittels europaweiter FAE-Netzwerke, die als Generalisten oder Spezialisten Technologie erklären konnten und einen wesentlichen Beitrag zur Informations- und Wissensverbreitung leisteten.
Dazu gab es eine Fülle an Dienstleistungen rund um die Produkte (Programmierung, Labelling etc.) und Logistikprogramme, die mehr oder weniger maßgeschneidert die produktionsgerechte Versorgung von Kunden sicherstellten (außer in Zeiten der Knappheit). Hersteller überstellten Kunden, die sie nicht mehr selbst mit der gleichen Qualität betreuen konnten. Klingt nach einem sicheren Geschäftsmodell.
Warum ist diese Fülle an Dienstleistungen – ein erheblicher Wertschöpfungsbeitrag für viele Kunden – 20 Jahre später nur die Hälfte wert, bzw. unterliegt einer permanenten kritischen Revision?
Lässt man die Allokationspolemik einmal beiseite, stellt man fest, dass das Modell immer noch sehr gut funktioniert und sich auch weiterentwickelt.
Nur: die Wertschöpfung erfolgt immer noch über die leidige Marge, in der alles verpackt ist, und die Verhandlungen mit Kunden finden selten über Cost-of-Ownership statt, sondern über den Stückpreis.
Doch Distribution ist nicht gleich Distribution. Die Geschäftsmodelle Online-Distributor, Spezialist und Broadliner sind zwar nicht 100 % abgrenzbar, bedienen aber im Kern unterschiedliche Erwartungen bei Kunden.
Die Broadliner teilen sich den Löwentanteil des Marktes (ca. 70 % je nach Produkt), der Rest verteilt sich auf Online-Distributoren und Spezialisten. Und gerade in der letzten Allokation spielte ein vierter Kanal, die unabhängigen Distributoren (Broker), eine nicht unwichtige Rolle in der Beschaffung »goldener Schrauben« (a.k.a. schwer zu findende Bauteile).
Die Online-Distributoren haben sich als High-Service-Kanal für kleine Stückzahlen ab Lager etabliert, die Spezialisten eben als regionale oder technische Spezialisten mit erstaunlicher Resilienz und Kreativität. Auch wenn sich einige der Kanäle zusehends überlappen, trifft die Herausforderung im Wesentlichen die Volumendistribution.
Was ist passiert?
Das Internet. Die Globalisierung. Die EMS-Industrie. Es gibt mehr Einflussfaktoren auf die heutige Struktur des Distributionsmarktes und erschöpfende Antworten sind in der Kürze unmöglich, aber diese drei Faktoren haben es in sich.
Das Internet hat in seiner irren Dynamik den Prozess der Informationsbeschaffung revolutioniert und klassische Geschäftsprozesse zur lahmen Ente gemacht. Der Entwicklungsingenieur ist besser informiert denn je, wenn er sein Design fertig hat, der FAE wird vom einstigen Produkterklärer zum Sanity-Checker im nachgeordneten Prozess.
Musterbauteile waren früher Mangelware, heute sind sie in NPI-Prozessen via Internet verfügbar. E-Commerce in beiden Ausprägungen (schnelle Online-Bestellung einerseits und Automatisierung von komplexen Geschäftsprozessen via APIs andererseits) macht alles schneller, weniger fehleranfällig und effizienter. All dies weckte natürlich auch Begehrlichkeiten in Richtung Preiseffizienz (»was kostet es ohne Designunterstützung?«).
Die Globalisierung brachte ein völlig neues Geschäftsgebaren.
Produktion wurde in Billiglohnländer verlagert. In Europa entwickelte Designs verschwanden beim Auftragsfertiger in Asien, gesourct wird inzwischen global. Da Asien oft andere Preisstrukturen bietet als Europa, entstanden Einkaufsbüros europäischer Kunden in Asien, und so wird ein nicht unerheblicher Anteil des europäischen Komponentenbedarfs in Asien eingekauft bzw. kommt erst als fertiges Produkt zurück nach Europa. Kein Wunder, dass aus Europas Anteil am globalen Komponentenmarkt von einst über 20 % weniger als 10 % wurden. So funktioniert halt Globalisierung, ganz ohne Wertung.
Folge für die Distribution: Designunterstützung in Europa ist teuer, wenn keine Bestellung der Ware den Aufwand kompensiert, und wird von den Herstellern auch immer weniger pekuniär gewürdigt.
Auch dies ohne Wertung: Mit der Zunahme der Auftragsfertigung seit Mitte der 90er Jahre zu inzwischen über 40 % Anteil am Distributionsumsatz entstand zusätzlicher Druck. Hier wurde keine Design-Unterstützung durch FAEs gebraucht, der Schwerpunkt lag auf Fulfillment. Während OEMs oft technische Unterstützung (heute stärker in Richtung System- und Software-Know-how) in Anspruch nehmen, belässt es die EMS Industrie weitgehend bei Stückpreispolitik und bestenfalls Unterstützung mit Logistikdienstleistungen, die wünschenswerterweise wenig kosten darf.
Diese Entwicklungen waren nicht linear, sondern hatten Schattierungen und Verästelungen. Und Sie brachten weitere Spieler in die Supply Chain, die sich, statt mit den Produkten, mit der Verknüpfung von Daten und Informationen beschäftigten. Die Rede ist von Plattformen, Softwareunternehmen, die etwa bestimmte Daten oder Tools (Software as a Service) anbieten, um rechtliche Erfordernisse besser abzudecken (RoHS, REACh etc.), Prozesse wie das leidige Quoting zu optimieren oder tiefe Einblicke in Verfügbarkeitsrisiken zu ermöglichen – alles Dinge, von denen man denkt, die Distribution hätte es auch anbieten bzw. als ureigene Aufgabe verstehen können. Doch wie sagt man so schön? Fire under the Bridge!
Hier liegt aber eine ganz besondere Chance für die Zukunft der Distribution.
Mit dem Wissen und dem Marktverständnis von heute kann Distribution mehr sein als nur Lieferant, Logistiker oder auch der edlen Hersteller Stellvertreter auf Erden, die die schlechte Nachricht von NCNR, Preiserhöhungen und Lieferzeiten weiterreichen.
Die Idee ist simpel und in anderen Branchen längst Usus: Service Design. In Ergänzung zum klassischen Vertrieb (allein das Wort…) identifizieren Distributor und Kunden zusammen über den reinen Komponentenbedarf hinaus nicht nur die notwendigen, produktnahen Dienstleistungen, sondern auch die »Pain Points« des Kunden, erarbeitet Lösungen und packt dies in ein individuelles Service-Design mit einem individuellen Preis.
Die simple Variante davon ist Activity-Based-Costing (ABC) oder Fee-for-Service, die notwendige wäre eine auf Wertschöpfungserfolg ausgerichtete Bepreisung: Der Distributor der Zukunft als Intelligenter Service Designer, der wie ein Supply-Chain Architekt agiert und von Beiträgen zur Prozesseffizienz ebenso profitiert wie von Erfolgen beim Risikomanagement.
Klingt unrealistisch? Stimmt. Heute noch.
Denn dazu bedarf es nicht nur eines gravierenden Umdenkens auf allen Seiten (Hersteller, Distributor, Kunde, Endkunde), das auch zu wollen, sondern auch einer neuen Denke und zusätzlicher Skills auf jedem Job-Level:
Der Verkäufer wird zum Service-Analysten und Opportunity-Scout (für die Umsetzung von Pain-Points in Servicemöglichkeiten), der Logistiker oder Supply-Chain-Spezialist zum Service-Architekten, der Einkäufer (auf Distributionsseiten) zum Verfügbarkeitsmanager. Eine weitere Voraussetzung, sich zum Intelligenten Service-Designer zu entwickeln ist ein besseres Verständnis von Daten und Informationen in der Supply-Chain und deren Bewertung – das wird wohl bald der KI-Kollege erledigen.
Es ist erstaunlich, wie ausgerechnet die High-tech-Industrie »Elektronik«, die in der Lage ist, die größten technischen Wunder hervorzubringen, in Sachen Angebots- und Nachfragemanagement immer wieder über ihre eigene Komplexität stolpert und sich vom eigenen Erwartungsmanagement (Moore’s Law) in die Preisecke treiben lässt. Andere Industrien machen längst vor, wie es gehen könnte.
Zum Schluss noch ein Gedanke dazu, welche Disruptionen nicht nur dem Modell »Distribution«, sondern der Elektronikindustrie insgesamt drohen.
Neben der Geopolitik, dem Klimawandel und KI ist es meiner Meinung nach das Thema »Nachhaltigkeit«, das massive Auswirkungen auf Produktgestaltung, Produktion, Energieverbrauch, verwendete Materialien, Lieferwege, Langlebigkeit von Produkten und nicht zuletzt Entsorgung haben wird.
Wir beobachten heute einen Mix aus Greenwashing und »zarten Anfängen«, die von der Gesellschaft künftig nicht mehr toleriert oder als zu wenig, zu langsam empfunden werden.
Es wäre gut, wenn diese Erkenntnis sich im künftigen Intelligenten Design unserer Industrie niederschlagen würde. Bald!