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Schaltstelle oder Nadelöhr?

20. Oktober 2023

»Ist Zeitenwende sekundär«
Georg Steinberger, Vorstandsvorsitzender des FBDi e.V.

Seit es Komponenten-Distributoren gibt, wurde deren Existenz immer wieder mal in Frage ge­stellt. Distribu­toren sehen sich als die Demand Creator für den Massen­markt, man­cher Kunde dagegen als das Nadelöhr in der »Big Shortage«. Beides ist ein biss­chen richtig. Und greift im Hin­blick auf die Zukunft zu kurz, denn die Dis­tribution könnte mehr sein.

Seit ich die Bauelementedistribution kenne, ver­folge ich mit Staunen die Diskussion um ihren Wert, zumal sie in der gleichen Zeit ihre Rolle im Markt nicht nur festigen, son­dern ausbauen konnte.

2022 stellte ein Rekordjahr im Umsatz dar, in den ausgelieferten Mengen und im Unmut mancher Kunden. In Allokations­zeiten kommt dies sicherlich häufiger vor, deshalb erscheint es mir viel wichtiger, nicht auf Einzel­kritik ein­zu­gehen, son­dern die generelle Rolle der Distri­bution zu be­leuch­ten.

Wie hat sie sich verändert, wie muss sie sich weiter verändern, um rele­vant zu bleiben?

Was waren die Merkmale der Bau­ele­mente-Distri­bution vor 20, 25 Jahren? Nachdem die erste Welle der Konso­li­die­rung und Pan-Euro­päisierung abge­schlos­sen war, erlebten wir eine Professio­na­li­sierung von Geschäfts- und Logistik­pro­zessen mit Hilfe von Business Software und Warenwirt­schafts­sys­temen, genossen ein starkes Ver­trauen der Hersteller in ihre Distri­bu­toren-Netz­werke, was die Akquise neuer Kunden betraf, zeigten hohe tech­ni­sche Kompetenz mittels euro­pa­weiter FAE-Netz­werke, die als Generalisten oder Spezialisten Tech­nologie erklären konnten und einen wesent­lichen Beitrag zur Informations- und Wissens­ver­breitung leisteten.

Dazu gab es eine Fülle an Dienstleistungen rund um die Produkte (Programmierung, Labelling etc.) und Logistikprogramme, die mehr oder weniger maßge­schneidert die produktionsgerechte Versorgung von Kun­den sicherstellten (außer in Zeiten der Knapp­heit). Hersteller überstellten Kunden, die sie nicht mehr selbst mit der gleichen Qualität betreuen konnten. Klingt nach einem sicheren Ge­schäfts­modell.

Warum ist diese Fülle an Dienst­leis­tungen – ein erheblicher Wert­schö­pfungs­beitrag für viele Kunden – 20 Jahre später nur die Hälfte wert, bzw. unterliegt einer permanenten kri­ti­schen Re­vi­sion?

Lässt man die Allokationspolemik einmal beiseite, stellt man fest, dass das Modell immer noch sehr gut funktioniert und sich auch weiterentwickelt.

Nur: die Wertschöpfung erfolgt immer noch über die leidige Marge, in der alles verpackt ist, und die Verhandlungen mit Kunden finden selten über Cost-of-Ownership statt, sondern über den Stück­preis.

Doch Distribution ist nicht gleich Distri­bu­tion. Die Geschäftsmodelle On­line-Dis­tri­butor, Spezialist und Broadliner sind zwar nicht 100 % abgrenzbar, bedienen aber im Kern unter­schied­liche Erwar­tungen bei Kunden.

Die Broadliner teilen sich den Löwentanteil des Marktes (ca. 70 % je nach Produkt), der Rest verteilt sich auf Online-Distri­bu­toren und Spezialisten. Und gerade in der letzten Allo­kation spielte ein vierter Kanal, die un­ab­hängigen Distri­bu­toren (Broker), eine nicht unwichtige Rolle in der Beschaffung »gol­de­ner Schrauben« (a.k.a. schwer zu findende Bau­teile).
Die Online-Distributoren haben sich als High-Service-Kanal für kleine Stück­zah­len ab Lager eta­bliert, die Spe­zia­listen eben als regionale oder technische Spezialisten mit erstaunlicher Resilienz und Kreativität. Auch wenn sich einige der Kanäle zuse­hends über­lappen, trifft die Heraus­for­de­rung im Wesentlichen die Volumen­dis­tribution.

Was ist passiert?

Das Internet. Die Globalisierung. Die EMS-Industrie. Es gibt mehr Einfluss­fak­toren auf die heutige Struktur des Distribu­tions­marktes und er­schöp­fende Ant­wor­ten sind in der Kürze un­mög­lich, aber diese drei Faktoren haben es in sich.

Das Internet hat in seiner irren Dynamik den Pro­zess der Informationsbeschaffung re­vo­lu­tio­niert und klassische Ge­schäfts­prozesse zur lahmen Ente gemacht. Der Ent­wick­lungs­in­ge­nieur ist besser informiert denn je, wenn er sein Design fertig hat, der FAE wird vom eins­tigen Produkterklärer zum Sanity-Checker im nachgeordneten Prozess.

Musterbauteile waren früher Mangelware, heute sind sie in NPI-Prozessen via Internet verfügbar. E-Commerce in beiden Aus­prä­gungen (schnelle Online-Bestellung einer­seits und Automatisierung von komplexen Ge­schäfts­pro­zessen via APIs an­de­rer­seits) macht alles schneller, weniger fehler­an­fällig und effizienter. All dies weckte natürlich auch Begehrl­ich­keiten in Richtung Preis­effi­zienz (»was kostet es ohne Design­unter­stützung?«).

Die Globalisierung brachte ein völlig neues Ge­schäftsgebaren.

Produktion wurde in Billig­lohn­länder verlagert. In Europa ent­wic­kelte Designs verschwanden beim Auftrags­fertiger in Asien, gesourct wird inzwischen glo­bal. Da Asien oft andere Preis­struk­turen bietet als Europa, ent­stan­den Einkaufsbüros euro­pä­ischer Kunden in Asien, und so wird ein nicht uner­heb­licher Anteil des euro­pä­ischen Kom­po­nen­ten­bedarfs in Asien ein­ge­kauft bzw. kommt erst als fertiges Produkt zurück nach Europa. Kein Wunder, dass aus Europas Anteil am globalen Kom­po­nen­ten­markt von einst über 20 % weniger als 10 % wurden. So funk­tio­niert halt Glo­ba­li­sie­rung, ganz ohne Wer­tung.

Folge für die Distribution: Design­unter­stützung in Europa ist teuer, wenn keine Bestellung der Ware den Aufwand kom­pen­siert, und wird von den Her­stel­lern auch immer weniger pe­kuniär gewürdigt.

Auch dies ohne Wertung: Mit der Zu­nah­me der Auftragsfertigung seit Mitte der 90er Jahre zu inzwischen über 40 % Anteil am Distri­butions­um­satz entstand zusätzlicher Druck. Hier wurde keine Design-Unter­stüt­zung durch FAEs gebraucht, der Schwer­punkt lag auf Ful­fill­ment. Während OEMs oft technische Unter­stützung (heute stärker in Rich­tung System- und Software-Know-how) in Anspruch neh­men, belässt es die EMS Industrie weit­gehend bei Stück­preis­politik und besten­falls Unter­stützung mit Logistik­dienst­leis­tungen, die wünschens­werter­weise wenig kosten darf.

Diese Entwicklungen waren nicht linear, son­dern hatten Schattierungen und Ver­äste­lungen. Und Sie brachten weitere Spieler in die Supply Chain, die sich, statt mit den Pro­duk­ten, mit der Verknüpfung von Daten und Infor­ma­tionen be­schäf­tigten. Die Rede ist von Plattformen, Software­unter­nehmen, die etwa bestimmte Daten oder Tools (Soft­ware as a Service) anbieten, um recht­liche Erfor­der­nisse besser abzudecken (RoHS, REACh etc.), Pro­zes­se wie das leidige Quo­ting zu opti­mie­ren oder tiefe Einblicke in Verfüg­bar­keits­risiken zu er­mög­lichen – alles Dinge, von denen man denkt, die Dis­tri­bu­tion hätte es auch anbieten bzw. als ur­ei­gene Aufgabe verstehen können. Doch wie sagt man so schön? Fire under the Bridge!

Hier liegt aber eine ganz be­son­dere Chance für die Zukunft der Distri­bution.

Mit dem Wissen und dem Markt­ver­ständ­nis von heute kann Distribution mehr sein als nur Liefe­rant, Lo­gis­tiker oder auch der edlen Hersteller Stell­ver­treter auf Erden, die die schlechte Nachricht von NCNR, Preis­er­höh­ungen und Liefer­zeiten wei­ter­reichen.

Die Idee ist simpel und in anderen Branchen längst Usus: Service Design. In Ergänzung zum klassi­schen Vertrieb (allein das Wort…) iden­ti­fi­zieren Distributor und Kunden zu­sam­men über den reinen Kom­po­nen­ten­bedarf hinaus nicht nur die not­wen­digen, produkt­nahen Dienst­leis­tungen, sondern auch die »Pain Points« des Kunden, er­ar­beitet Lö­sun­gen und packt dies in ein indi­vidu­elles Ser­vice-Design mit einem indi­vi­du­ellen Preis.

Die simple Variante davon ist Activity-Based-Costing (ABC) oder Fee-for-Service, die not­wen­dige wäre eine auf Wert­schöp­fungs­erfolg ausgerichtete Be­preisung: Der Dis­tri­butor der Zukunft als Intelli­ge­nter Service Designer, der wie ein Supply-Chain Architekt agiert und von Beiträgen zur Pro­zess­effi­zienz ebenso pro­fi­tiert wie von Erfolgen beim Risiko­ma­na­ge­ment.

Klingt unrealistisch? Stimmt. Heute noch.

Denn dazu bedarf es nicht nur eines gra­vie­ren­den Umdenkens auf allen Seiten (Her­stel­ler, Distributor, Kunde, Endkunde), das auch zu wollen, sondern auch einer neuen Denke und zusätzlicher Skills auf jedem Job-Level:

Der Verkäufer wird zum Service-Analysten und Opportunity-Scout (für die Umsetzung von Pain-Points in Service­mög­lich­keiten), der Lo­gis­tiker oder Supply-Chain-Spezialist zum Service-Archi­tekten, der Einkäufer (auf Dis­tri­bu­tions­seiten) zum Verfüg­bar­keits­manager. Eine weitere Voraus­setzung, sich zum Intelli­gen­ten Service-Designer zu entwickeln ist ein bes­se­res Ver­ständ­nis von Daten und Infor­ma­tionen in der Supply-Chain und deren Be­wer­tung – das wird wohl bald der KI-Kollege er­ledigen.

Es ist erstaunlich, wie ausgerechnet die High-tech-Industrie »Elektronik«, die in der Lage ist, die größten technischen Wunder hervor­zu­bringen, in Sachen Angebots- und Nach­frage­ma­nage­ment immer wieder über ihre eigene Kom­plexität stolpert und sich vom eigenen Erwartungs­ma­na­gement (Moore’s Law) in die Preisecke treiben lässt. Andere Industrien machen längst vor, wie es gehen könnte.

Zum Schluss noch ein Gedanke dazu, welche Disruptionen nicht nur dem Modell »Distri­bution«, sondern der Elek­tronik­in­dustrie insgesamt drohen.

Neben der Geopolitik, dem Klimawandel und KI ist es meiner Meinung nach das Thema »Nach­haltig­keit«, das massive Aus­wir­kungen auf Produkt­ge­stal­tung, Produktion, Ener­gie­ver­brauch, verwendete Materialien, Liefer­wege, Langlebigkeit von Pro­duk­ten und nicht zuletzt Entsorgung haben wird.

Wir beobachten heute einen Mix aus Green­washing und »zarten Anfängen«, die von der Gesellschaft künftig nicht mehr toleriert oder als zu wenig, zu langsam empfunden werden.

Es wäre gut, wenn diese Erkenntnis sich im künf­tigen Intelligenten Design unserer Industrie niederschlagen würde. Bald!

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