Field-Application-Ingenieure in der Distribution
27. März 2024
Quelle: Markt&Technik Nr. 12/2024
Georg Steinberger, Vorstandsvorsitzender des FBDi im Gespräch mit Karin Zühlke.
Die Innovationsexplosion in der Elektronikindustrie sucht ihresgleichen. Doch wie hält der technische Support in Person des FAE beim Distributor damit Schritt? Und was muss er/sie in Zukunft können?
Die Distribution von Komponenten war Zeit ihrer Existenz kein reiner Handel im klassischen Sinn, sondern sie hatte schon immer jede Menge technische Kompetenz drauf. Was hat aus Ihrer Sicht den technischen Support in der Distribution von Beginn an am meisten geprägt?
GS: Die zwei prägenden Aspekte der technischen Unterstützung in den letzten 30 Jahren waren der »Field Application Engineer« – der FAE – und das Internet.
Dass der FAE von Anfang an so wichtig war, kommt nicht von ungefähr: Schließlich kamen doch die Gründer der ersten Bauelemente-Distributoren entvweder von den Herstellern selbst oder sie waren Techniker, Ingenieure oder Autodidakten mit großer Begeisterung für die noch junge Technologie »Elektronik«.
Einer dieser Gründer-Pioniere war Erich Fischer, Gründer von EBV, heute Teil des Avnet-Konzerns.
GS: Richtig. EBV war einer der ersten Distributoren, der als reiner Halbleiterspezialist aus der Taufe gehoben wurde. Gründer Erich Fischer und sein »Kopilot« Peter Gürtler, später selbst legendärer EBV-Chef, stellten als Verkäufer nur Techniker und Ingenieure – größtenteils mit Anwendungserfahrung beim Kunden – ein, die das, was sie verkauften, haarklein erklären konnten und auch die Anwendungen des Kunden weitestgehend verstanden, um als »Trusted Advisor« gelten zu können. Andere Distributoren, teils früher, aber meistens später gegründet, verfuhren ähnlich.
Warum haben Distributoren überhaupt im großen Stil damit begonnen, FAEs einzustellen?
GS: Einer der Gründe war die zunehmende Komplexität von Produkten – RISC-Prozessoren, programmierbare Logik, Smart-Power-ICs und viele andere –, ein anderer der Drang der Hersteller, exklusive technische Vermarktungs- bzw. Demand-Creation-Ressourcen zur Bedingung eines Franchise-Vertrages zu machen. Das führte so weit, dass Distributoren bisweilen pro zwei Verkäufer einen FAE beschäftigten, um Projekte zu gewinnen und Design-Registrierungen bei den Herstellern vorzunehmen, die dies mit relativ hohen Design-Boni belohnten.
Zu dieser Zeit waren technische Basisinformationen nur über Datenbücher und -blätter verfügbar, die Standardausrüstung der FAEs bei Kundenbesuchen. Dieser traf auf Kunden, die dankbar für Entscheidungshilfen waren. Zahlreiche Technologieseminare und Road-Shows, veranstaltet von Distributoren mit Unterstützung der Hersteller, die keinen Sales-Pitch ausließen, erfreuten sich regen Besuchs, manche etablierten sich gar als richtige Spezialmessen mit weit über tausend Besuchern.
Das Internet änderte das alles radikal und wurde fortan sozusagen zum Basis-FAE – kann man das so sagen?
GS: Spätestens ab 2000 waren Basisinformationen wie Datenblätter und Anwendungsbeispiele online verfügbar, anfangs selektiv, später voll-umfänglich. Manche Hersteller-Webseiten sind ausgebaut wie kleine Online-Universitäten mit Wissen rund um Produkte und Anwendungen in jedweder audiovisuellen Form, das seinesgleichen sucht. Ein Ergebnis war, dass viele Entwickler bei den Kunden heutzutage bei Projektstart auf einem sehr hohen Basisniveau operieren, was Halbleiterprodukte betrifft.
Welche Folgen hatte das für die Distribution und den technischen Support?
GS: Nun, wie fast alle anderen Boni, die der Distribution einst als angestammtes Recht galten, wurden auch die Design-Boni weitgehend zum Zwecke der Profitvermehrung der Hersteller zunehmend einkassiert. Das machte es notwendig, die Rolle der technischen Unterstützung durch Distributoren neu zu definieren – es gab auch Kundengruppen, Paradebeispiel hierfür ist der EMS bzw. Auftragssegmente, das Fulfillment, bei denen Hilfe durch FAEs nicht notwendig war.
Wie gestaltete die Distribution schließlich die Neu-Definition der technischen Unterstützung?
GS: Die Redefinition der technischen Unterstützung fing an mit einer deutlichen Spezialisierung in der technischen Kompetenz, weit über die Produktkenntnis hinaus bis zur Durchdringung mancher Applikationsbereiche auf der Systemebene, speziell bei architektur- und softwaregetriebenen Produkten wie Prozessoren, Mikrocontroller oder FPGAs: Betriebssysteme, Echtzeitbetriebssysteme, Softwarekernels, Java-Programmierung gehörten recht schnell zum Standardrepertoire der breiter aufgestellten FAEs, andere wiederum unterstützen die Kunden vertikaler Segmente mit Fachwissen rund um Automotive, Medical, Smart City, IoT und vielen mehr.
Zu Hilfe kam dabei ein deutlich verbessertes Informationsmanagement, Projektdatenbanken und Big Data, die aus dem Meer an vorhandenem Wissen wiederverwertbare und multiplizierbare Informationen für Kunden machten und heute noch tun.
Der reine Produktspezialist wurde damit obsolet?
GS: Nein. Der Produktspezialist existiert nach wie vor in Bereichen, die extrem komplex sind: Analog, Mixed-Signal, HF, aber auch Systems on Chip. Als Schwerpunkt der Arbeit erweist sich hier die Beratung über Neuheiten auf den Hersteller-Roadmaps, lange vor dem NPI-Prozess, was die Designsicherheit vieler Kunden deutlich ins Positive befördert. Fokuskunden kannten den i.MXRT1180 von NXP schon ein Jahr vor dem NPI-Start, nicht nur, weil sie die vorläufigen Datenblätter schon im Internet gescannt haben, sondern weil der Distributions-FAE für die Vorstellung und den Sanity-Check in der Anwendung zur Verfügung standen.
Wenn der eine oder andere Leser jetzt sagt: »Ja, das sind doch nur wenige Paradebeispiele, die sich in der Breite nicht wiederfinden«, was würden Sie dann antworten?
GS: Warum werben dann so viele Hersteller die in der Distribution ausgebildeten Ingenieure für viel Geld ab, um sie in ihre eigenen technischen Support-Teams einzureihen? Die Aufzählung von Beispielen würde den Rahmen des Artikels sprengen, und wir wollen ja nicht angeben.
Und wohin geht die Reise nun technologisch betrachtet im Jahr 2024 und darüber hinaus?
GS: Da reicht ein kurzer Blick auf die technische Entwicklung der Halbleiterindustrie und den riesigen Fokus der Anwenderindustrie auf die Software. Zunächst die Hardware-Entwicklung: Die Neuheit in nahezu jeder künftigen Hardware-Architektur werden KI-Kerne sein, die den normalen Mikrocontroller oder Prozessor ergänzen – die Arm-Roadmap zeigt dies ganz klar auf. Wer hier beraten will, muss KI verstehen und was sie beim Kunden an Use-Cases sinnvoll unterstützen kann, sowohl direkt am Einsatzort – Edge-AI – als auch in zentralen Systemen. Die Augenhöhe mit des Kunden Applikation ist hier erfolgskritisch.
Ein weiterer Schritt sind Systems in Package.
GS: In der Tat. Heute noch die Bleeding-Edge-Lösung für Data-Center-KI, wird deren Anwendung vor Automotive- und Industrie-Applikationen nicht halt machen, zumal die horrenden Kosten für Chiplet-Designs weiter runterkommen durch die Entkopplung teurer von weniger teuren Prozessschritten und weil das Packaging selbst besser und kostengünstiger handhabbar werden wird.
Was bedeutet all das für die Anforderungen an den FAE?
GS: Für FAEs bedeutet das eine Auseinandersetzung mit Systemdesign und Software auf einer höheren Komplexitätsstufe als bisher. Auch Ansprechpartner und Produktmix ändern sich: Der Software-Ingenieur beim Kunden trifft mehr Hardware-Entscheidungen, zumal Software nicht selten 60 Prozent der Systemkosten ausmacht oder gar übersteigt; oft stehen zwischen Kunden und Distributoren (und auch Herstellern) Entwicklungsdienstleister, die überzeugt werden wollen; vonseiten der Chip-Hersteller wird, je mehr Module (SOMs) oder Chiplets (SIPs) vermarktet werden, immer mehr auf den Verkauf von IP und damit eine Art Abo-Modell gesetzt.
Wie könnte dann die FAE-Mannschaft eines Distributors in Zukunft aussehen?
GS: So die Ingenieure in der Distribution verbleiben, was angesichts des drohenden Ingenieurmangels nicht unbedingt sicher ist, würde die FAE-Mannschaft aus mehr Spezialisten bestehen, vor allem Technologiespezialisten, etwa Power, Analog, FPGAs, und Softwareexperten – KI und Machine-Learning. System-FAEs mit Betriebssystemkenntnissen und reine Vertikalspezialisten für große Geschäftsbereiche wie Automotive, Medical oder auch Motor-Control, die mehr Business-Development oder Strategieberatung betreiben als reinen technischen Support, werden eventuell auf anderen Managementebenen beim Kunden anklopfen müssen als bei den Hardware-Entwicklern.
Abschließend: Welche Rolle spielen Chatbot-FAEs in Zukunft?
GS: Bisher würden Ingenieure wohl die Augenbrauen hochziehen, wenn Sie Beratung einer KI in Anspruch nehmen würden, jedoch sehe ich diese Schwelle bröckeln, je besser die dahinterliegende KI in der Handhabung technischer Support-Fragen wird und je drängender der Ingenieurmangel wird. Hersteller entwickeln an solchen Lösungen für ihre teils hervorragenden Websites, weil sie es sich leisten können und weil dies ihre Exklusivität beschützt.
Und die Distributoren?
GS: Online-Distributoren machen das auch, weil sie es sich auch leisten können und der Schritt nach oben in der Nahrungskette vom Kleinstückzahlverkauf zur Volumendistribution verführerisch – wenn auch schwierig – ist. Die großen, globalen Volumendistributoren MÜSSEN dies machen, weil es einige der wenigen Differenzierungsmöglichkeiten aufrechterhält. Das gilt im Übrigen auch für die Entwicklung eines KI-gestützten Supply-Chain-Beraters. Hoffentlich bald, denn hier liegt das Geld der bisher versäumten Digitalisierung auf der Straße.