Das Geschäft mit den Halbleitern
03. Januar 2022
Die neue Zwei-Klassen-Gesellschaft
Quelle: Markt&Technik Nr. 1-2/2022 (zü)
Zweifellos war 2021 ein starkes Jahr, trotz der Auswirkungen von Covid-19. Der europäische Distributionsmarkt für elektronische Komponenten wuchs im Durchschnitt um ca. 20 Prozent, mit geringfügigen Unterschieden zwischen den Ländern, auf insgesamt über 16 Mrd. Euro.
Der Gesamtmarkt selbst (einschließlich Direktgeschäft) wuchs sogar noch stärker. Nach den jüngsten Prognosen der World Semiconductor Trade Statistics (WSTS) schloss der weltweite Halbleitermarkt mit einem Plus von über 25 Prozent ab, so auch in Europa.
Ein riesiger Auftragsbestand, der auf massiven Buchungen beruht, und ein anhaltend guter Auftragsstrom aus allen Kundensegmenten bis Ende 2021 (und wahrscheinlich darüber hinaus) lassen vermuten, dass auch das Jahr 2022 sehr positiv – zweistellig – ausfallen wird.
Es sei denn, wir sitzen auf einer Blase, die sich einfach auflösen wird. Klar ist, dass die Buchungen weit über das normale Auftragsfenster hinausgehen und eine konsolidierte Nachfrage darstellen, die sehr weit in die Zukunft reicht. Die Kunden, deren Rohwarenbestände (ja, Komponenten sind Rohwaren) im Jahr 2020 ziemlich niedrig waren, wurden durch die anhaltende Verknappung veranlasst, weit vorauszuplanen – und genau das zeigt sich uns.
Wird diese künftige Nachfrage in ein paar Monaten noch real sein?
Auf jeden Fall. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sie einfach verschwindet, und alle Faktoren, die das Verhalten derzeit bestimmen, ändern sich auch nicht über Nacht. Die Frage, die sich jeder europäische Händler und Kunde stellt, ist:
Wann werden wir den Wendepunkt erleben?
Der Wendepunkt ist in diesem Fall zu definieren als ein Rückgang von den derzeitigen Auftragsspitzen hin zu einer normaleren Situation, einem besseren Gleichgewicht zwischen Buchungen und Rechnungen (Bookings und Billings in Neudeutsch).
Wie ernst die derzeitige Situation in der Lieferkette – der Mangel an Bauteilen – ist, zeigt sich daran, dass sogar in den Fernsehnachrichten darüber berichtet wird. Und jeder hat seine eigene Meinung dazu, wann der Wendepunkt erreicht ist, sprich: wie lange die Verknappung und die daraus resultierenden Preissteigerungen andauern werden.
Die Spanne der Vorhersagen reicht von Ende Q1/2022 bis Mitte 2024, alle wahrscheinlich so gültig wie die einzelnen Bedingungen, unter denen sie geäußert wurden.
Eine kürzlich durchgeführte informelle, anonyme Umfrage unter den Händlern ergab ein hohes Maß an Unsicherheit über diesen Wendepunkt im Zyklus, aber eine Zusammenfassung der Erwartungen auf »nach dem Sommer, gegen Ende 03/2022« würde wahrscheinlich eine beträchtliche Anzahl von Anhängern finden. Bis dahin könnte sich das Book-to-BillVerhältnis wieder auf annähernd 1 zubewegen (und nicht 1,7 wie im Moment) – das wäre für alle eine Erleichterung und würde eine viel bessere Planung ermöglichen.
Mit anderen Worten:
2022 ist nicht wirklich das Jahr, über das wir sprechen, das erscheint bereits »im Sack«.
Die Frage ist eher, ob wir ein weiteres Wachstum von 20 Prozent sehen werden (wie es die Auftragsbücher vermuten lassen) oder ob es etwas moderater ausfallen wird, etwa 10 Prozent.
Wovon hängt das ab?
Nun, einerseits von der Verfügbarkeit von Schlüsselkomponenten, die derzeit knapp sind, andererseits von einer Aufholjagd auf den tatsächlichen Endmärkten der Kunden, die durch Covid-19 und die anschließenden Lieferkettenausfälle ins Stocken geraten sind. In Europa wären dies vor allem, aber nicht ausschließlich, die Automobilindustrie und die Industrie, und innerhalb der Industrie hoffentlich eine Welle von Investitionen in die Technologie der erneuerbaren Energien; schließlich von den üblichen Verdächtigen 5G oder IoT.
Die wichtigere Frage, die sich nach 2022 stellt, lautet: Wie wirkt sich diese Krise der Komponentenversorgung über das nächste Jahr hinaus aus?
Wenn Sie zwei einfache Fakten betrachten, ohne zu urteilen, werden Sie sehen, was mit der obigen Aussage der »Zweiklassengesellschaft« gemeint ist: Infineon eröffnete vor wenigen Wochen eine 300-mm-Waferfabrik in Villach/Österreich, die Leistungsbauelemenvte (u.a. für Automotive) produzieren soll. Kosten: 1,8 Mrd. US-Dollar. TSMC scheint seine Fab18 im südlichen Taiwan fertiggestellt zu haben, die modernste Logik und Prozessoren in 3-nmGeometrie produzieren soll. Kolportierte Kosten: 18 Mrd. US-Dollar.
In solchen Fabriken werden in der Regel besonders hochintegrierte und leistungsstarke Komponenten wie Mikroprozessoren, Grafikprozessoren und System-an-Chips hergestellt, die in großen Mengen nur von Data-Center-Riesen, Computer- und Smartphone-Giganten und nicht zuletzt von Herstellern von Spielkonsolen verwendet werden dürften. Das ist die Spitzenklasse.
Dann gibt es noch die anderen Halbleiterbauelemente: diskrete Bauelemente, Leistungsbauelemente, Sensoren, analoge Bauelemente, Spezialspeicher, Opto-Bauelemente und weniger aufwendige Logik wie kleinere Mikrocontroller für Industrie und Automobil. Auch sie benötigen eine weniger komplexe, aber dennoch kosteneffiziente Produktion, bei der andere Parameter als die On-Chip-Geometrien eine Rolle spielen. Dies ist die andere Klasse.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es handelt sich um äußerst wichtige Komponenten, die in Millionen von Anwendungen aller Größen und Bereiche eingesetzt werden. Und die Rentabilität der Investitionen ist angesichts der laufenden Konsolidierung der Hersteller dieser Komponenten wahrscheinlich äußerst hoch. Sehr oft sind sie nicht die Ursache für eine Verknappung oder ein Überangebot, sondern werden in den Strudel der Anforderungen der globalen Giganten in der Computer-, Verbraucher- und Kommunikationsbranche hineingezogen.
Die Krise in der Lieferkette 2020 ff. ist ein sehr gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn die Großen« den Preis für die regelmäßige Versorgung mit allen von ihnen benötigten Komponenten zahlen - der Rest der Kunden schaut in die Röhre.
Das wird das Beschaffungsprinzip der Zukunft sein: Verfügbarkeit vor Preis.
Ohne Verfügbarkeit von Technologie kein oder nur unzureichendes Wachstum. Beschaffung und Management müssen also auf die Sicherung der Verfügbarkeit hinarbeiten, wenn sie sich nicht immer wieder als Kunden zweiter Klasse behandelt fühlen wollen.
Die eingangs erwähnte und oben ausführlich beschriebene technische und kommerzielle Kluft wird von einer geostrategischen Kluft begleitet: Die enorme Konzentration von Produktionskapazitäten (zumindest bei den führenden 5-nm-Technologien und darunter) in einigen wenigen Händen wird sowohl von der EU als auch von den USA mit Besorgnis betrachtet, allerdings jeweils aus einer anderen Perspektive heraus.
In den USA gibt es viele weltweit führende Halbleiterunternehmen mit einem enormen Reichtum an Chip-fähigem IP (geistiges Eigentum), das sie schützen wollen, indem sie die Halbleiterproduktion führender Foundries wie TSMC ins Land holen. Die Produktion der künftigen Super-Chips amerikanischer Unternehmen auf amerikanischem Boden ist sicherer als die Produktion 50 Meilen vom chinesischen Festland entfernt. Außerdem sind viele große Kunden in den USA ansässig, die möglicherweise ein ähnliches Interesse haben. Die EU hingegen hat – nichts.
Die Spitzenprodukte der europäischen Halbleiterunternehmen, die eine Sub-5-nm-Fab rechtfertigen würden, füllen keine ganze Produktionslinie. Und die typischen europäischen Kunden verwenden keine Prozessoren, die für die Leistung in den Rechenzentren der Internetgiganten ausgelegt sind - zumindest nicht in einer Anzahl, die für einen reinen Auftragshersteller wie TSMC wirtschaftlich sinnvoll ist. Die deutsche Autoindustrie hat das im Jahr 2020 auf harte Weise gelernt.
Wie kann Europa in einem Spiel mitspielen, das im Jahr 2030 oder früher einen Markt von einer Billion US-Dollar (in Englisch: 1 Trillion) umfassen wird, in dem der Besitz von geistigemEigentum an Halbleitern über den Erfolg entscheidend ist?
Da das Spiel um das geistige Eigentum nicht gewonnen werden kann, zumindest nicht kurzfristig (es würde ein 20- bis 30-jähriges Bildungsprogramm und ein günstiges Umfeld für Neugründungen erfordern), stellt sich die Frage, wie man dazu beitragen kann, die Versorgung der Industrie, wie sie heute und in den nächsten Jahren besteht, zu sichern.
Kann das auf politischer Ebene gelöst werden? Höchst unwahrscheinlich!
Es geht auch nicht wirklich um Produktionssubventionen, denn die würden alles viel teurer machen. Milliarden-Subventionen an ohnehin reichen Unternehmen bringen kaum Arbeitsplätze und produzieren höchstens Produkte für reiche Smartphone-Hersteller.
Vielleicht sollte sich Europa eingestehen, dass es nur in der zweiten Liga spielt (was keine Beleidigung der wenigen europäischen Hersteller sein sollte, die sehr wohl erfolgreich auf dem Weltmarkt unterwegs sind) und dass man, bevor man ein neues Stadion mit 100.000 Plätzen und lauter Business-Logen baut, erst mal eine Spielergeneration (sprich: IP-Produzenten) heranziehen sollte, die auch jemand anschauen will - sprich: deren Super-Chips überall auf der Welt ihren Einsatz finden.
Bis dahin muss der Markt das Problem durch eine weniger opportunistische und besser vorhersehbare Planung und Verhaltensweise selber lösen.
Die Politik sollte sich raushalten, und wenn das nicht geht, vielleicht mal ihr altes Versprechen einlösen: Rückführung von Bürokratie und Regulierungswut.
Vielleicht animiert das ja die schlauen Köpfe, die Europa zweifelsohne hat, zur Gründung künftiger Chip-Giganten, die in der Champions League der Halbleiterei mithalten können. (zü)