Zurück aus der Zukunft
17. Januar 2024
Halbleitermarkt 2024 im Fokus von Innovation und Politik
Noch liegen die Zahlen für das vierte Quartal 2023 nicht vor, aber in der Tendenz dürfte der Konsolidierungstrend anhalten. Der Umsatz entschleunigt sich auf noch immer hohem Niveau, die Auftragslage ist erwartbar zurückhaltend.
Prognose der globalen Anzahl von 300-mm-Waferfabs©
»Die Vergangenheit ist eine Zukunft, die bereits passiert ist.«
Dies ist das Motto der famosen Steampunk-Bewegung. Was das mit der Distribution zu tun hat? Nun, die große Knappheit von 2021 und 2022 führte zu Reaktionen: Niemand möchte gern eine solche Situation mit Lieferzeiten von einem Jahr oder länger wieder erleben; deshalb wurden viele Aufträge, die weit in die Zukunft reichten, platziert. Viele Hersteller und Distributoren applizierten ob der langen Reichweite und des finanziellen Risikos strikte No-Cancellation-No-Return-Regeln. Die Zuvkunft wurde also bereits in der Vergangenheit verbucht und zu großen Teilen auch geliefert, mit Rekordzahlen bei Aufträgen und Umsätzen in rund zehn Quartalen.
Jetzt sind wir zurück aus der Zukunft und sehen eine Marktkonsolidierung, die so überfällig wie unvermeidlich war. Und die wird so lange anhalten, bis die Kundenläger wieder leer sind, möglicherweise etwas länger, denn die allgemeinen Konjunktursignale, die auch vor unserer Industrie nicht halt machen, sind nicht so ermutigend, wie wir uns wünschen würden. Außer bei Automotive und Military/ Aerospace sind die Aussichten eher verhalten, und ob der sich grade anbahnende Boom bei KI-Chips sich auch für Europa positiv auswirkt, bleibt abzuwarten.
Obwohl das Jahr 2023 noch leichtes Wachstum zeigen konnte aufgrund des guten ersten Halbjahrs, werden die Umsätze der Distribution im Jahr 2024 nicht auf diesem irren Niveau verharren können. Der Grund ist simpel: Legt man die Zahlen von DMASS Europe (85 Prozent Marktabdeckung in Europa) zugrunde, dann erreichte die europäische Komponentendistribution von 2020 bis 2023 ein Wachstum von rund 75 Prozent auf über 21 Milliarden Euro. Dass es sich hierbei nicht (nur) um eine wundersame Marktvermehrung dank unvorhergesehener Innovationen handelte, sondern um einen Post-Covid-Nachlaufeffekt, gepaart mit Preiserhöhungen, Allokation und Panikkäufen, ist offensichtlich.
Es ist wohl schwer zu vermitteln, dass bei normalen Wachstumsraten das 2023 erreichte Umsatzniveau erst ein paar Jahre später eingetreten wäre und jetzt einfach wieder Normalität herrscht. Schön wäre es, wenn Journalisten und Zeitungen das mal so sachlich darstellen und nicht gleich von Markteinbruch oder Schrumpfung schreiben würden, wenn sich eine überfällige Regulierung auf Rekordniveau einstellt, aber sei’s drum. Zur Übung fürs »Halbvollsehen« sei die Website Good News (goodnews.eu) empfohlen.
Lesen Sie übrigens, wenn Sie positiv bleiben wollen, lieber nicht die von Standard & Poors monatlich veröffentlichten PMIs (Production & Manufacturing Index). Sie geben das Vertrauen der produzierenden Industrie ins künftige Wachstum wieder, bzw. Misstrauen, denn seit Mitte letzten Jahres gehen diese quer durch die Welt auf unterirdische Levels zurück. Man weiß nie, ob die gefühlte Lage schlechter ist als die Realität, was ich angesichts der vielen Krisen weltweit durchaus verstehen könnte. Gerade in Deutschland ist der Untergang des Abendlandes Programm, wenn zum Beispiel in einer Kita ein Weihnachtsbaum fehlt.
Zurück zu unserem Markt: Die Komponentenindustrie hat ihre eigene Dynamik und läuft nicht immer parallel zur Gesamtentwicklung. Das liegt daran, dass sie super-innovativ, komplex, global, vielfältig und in jeder Region anders strukturiert ist. Die Frage bleibt: Nun, da die Allokation größtenteils vorbei ist und jeder volle Läger hat, wie geht’s weiter?
Nehmen wir mal die World Semiconductor Trade Statistics (WSTS), den Marktanalyse-Arm der Semiconductor International Association (internationaler Halbleiterverband). Sie hat kürzlich ihre Herbstprognose für 2023 und 2024 vorgestellt und für 2023 die weltweiten Wachstumsaussichten von –10 Prozent auf –9 Prozent (Europa: +6 Prozent) korrigiert. Für 2024 erwartet der WSTS sogar +13 Prozent weltweit (Europa: +4,3 Prozent).
Vergleich Distribution: Mit viel Glück wird 2023 knapp positiv bleiben (kein Wunder, bei 75 Prozent Plus in drei Jahren) und 2024 wird ein Abschwung von diesem hohen Niveau erfolgen, also gegenläufig zu den WSTS-Erwartungen für Europa. Widerspruch? Nein, sondern unterschiedliche Kundenstruktur und unterschiedliches Timing, wie dutzende Male in der Vergangenheit erlebt.
Die erste Gretchenfrage
Woher kommen die hohen Erwartungen für den Gesamtmarkt? Weltweit basieren sie auf zwei Produktgruppen: KI-basierte Logik (hauptsächlich GPUs) und sogenannte High-Bandwidth-Memories, die systemkritisch für den Erfolg von KI in Datacentern sind. Allein die Speicher sollen um 44 Prozent wachsen, und zwar hauptächlich in den USA und Asien. Überhaupt: Die Umsätze in den USA sollen nächstes Jahr um 22 Prozent wachsen, denn dort boomt KI auf breiter Front, wie man an den Quartalsergebnissen von Nvidia, dem GPU-Giganten, sieht, der gerade Intel und Samsung im Halbleiterumsatz überholt hat.
Ohne diesen Sondereffekt bleibt der Markt zwar verhalten positiv, aber allein der Ausdruck »der Markt« ist eigentlich schon falsch, da wir über viele Teilmärkte reden, die unterschiedlich ticken, aber sich doch irgendwie gegenseitig beeinflussen: Auch KI-Server brauchen Analog-ICs, stinknormale Controller und viele Commodities, die auch in Automobilen, Industrieelektronik und anderen Anwendungen zum Einsatz kommen.
In Europa findet dieser KI-Boom bestenfalls teilweise statt, jedenfalls nicht auf der Hardware-Ebene. Welche Marktsegmente spielen hierzulande die wichtigste Rolle? Automotive und Industrial. Das erklärt auch, warum der WSTS für Europa nur gut 4 Prozent Wachstum für 2024 annimmt, denn die Automobilindustrie schürt nach wie vor hohe Erwartungen – hauptsächlich getrieben von E-Autos.
Aus der Industrieelektronik kommen dagegen wenig positive Signale (ich habe extra beim WSTS nachgefragt). Auch die Komponentendistribution wird vom KI-Boom frühestens dann profitieren, wenn die Anforderungen von Kunden für KI-Hardware kommen; das erfordert jedoch noch eine Menge an Aufklärungs- und Design-Arbeit.
Mithin bleibt für 2024 die Aussicht überschaubar. Das Einzige, was das ändern könnte, wäre eine erneute Verknappung eines breiten Komponentenspektrums – KI-Boom in USA kombiniert mit heruntergefahrenen Kapazitäten bei vielen Herstellern –, aber wer möchte darauf wetten? An den langfristigen Erfolgsaussichten der Halbleiterindustrie, auch in Europa und damit auch unserer Distributionsindustrie, ändert dieses Konsolidierungsjahr übrigens nichts.
Die zweite Gretchenfrage
… bezieht sich auf die politische Einflussnahme auf den Halbleitermarkt bzw. die Halbleiterindustrie, hinreichend dokumentiert durch die »Chips Acts« in den USA, Europa, Japan, Taiwan, Korea, Indien und natürlich China: Welche Auswirkungen werden diese Subventionen auf die Struktur des Halbleitergeschäfts haben? Im Westen scheint der Plan zu sein, China zunehmend (zumindest aus der Leading-Edge-) Fertigung heraushalten zu wollen, in China, die Selbstversorgung so weit wie möglich sicherzustellen.
Das Ergebnis wird wohl die Existenz zweier Wirtschaftsblöcke sein, die ihren Teil des Marktes absichern wollen. Funktioniert das oder bricht hier das auf Globalität angelegte Geschäftsmodell zusammen, weil die »Economies of Scale« fehlen? Kurzfristig ist das noch kein Thema, aber sobald all die angekündigten 300-Millimeter-Fabs stehen (ab 2025?), wird sich erweisen, ob die Kapazitäten alle benötigt werden und was das für die Wirtvschaftlichkeit bedeutet.
SEMI International beklagte übrigens, dass es für die berühmte Billion US-Dollar an Halbleiterumsatz 2030 möglicherweise zu wenig Fabs geben könnte. Knometa Resarch dagegen veröffentlichte im Laufe dieses Jahres ein Statement, dass 2027 wohl 230 300-Millimeter-Waferfabs am Start sein werden. Bei geschätzten 750 bis 800 Milliarden US-Dollar Umsatz würde dies pro Fab durchschnittlich 3,5 Milliarden Dollar Umsatz bedeuten (natürlich muss man berücksichtigen, dass zu dem Zeitpunkt auch noch eine Menge an alten 200-Millimeter Fabs laufen werden). Reicht das, um die horrenden Investitionen zu rechtfertigen?
Wie steht die Distribution in dieser Neudefinition der Globalisierung da? Ist das Modell Distribution, wie wir es kennen, unter Druck? Ich würde sagen, nicht mehr und nicht weniger als in den letzten 40 Jahren. Anpassen an neue Gegebenheiten, stärkerer Fokus auf Digitalisierung und Effizienz, Definition neuer Geschäftsmovdelle und last but not least ein übers Tagesgeschäft hinausgehender Blick auf Trends und Pain-Points bei Kunden sind die wesentlichen Voraussetzungen, um relevant zu bleiben. Bis dato ist dies trotz mancher Disruptionen gut gelungen.
Gefährlich wäre es jedoch, die politischen Trends zu übersehen. Wenn die Executives der Halbleiterindustrie über ein Redesign der Halbleiter-Supply-Chain diskutieren, muss nicht unbedingt nur China gemeint sein.
Quelle: elektroniknet.de 1/2023
© Bildrechte, KI/SMD