20 Jahre FBDi – Distribution
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»Distribution / Supply Chain«

20 Jahre FBDi – Distribution im Wandel: »Distribution / Supply Chain«

Chips Acts und strate­gische Unabhängigkeit

28. Mai 2024

Nach dem Chips Act ist vor den Chips Acts

»Nach dem Chips Act ist vor den Chips Acts«
Georg Steinberger, Vorstandsvorsitzender des FBDi e.V.

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Wenn Regierungen auf der ganzen Welt Milliarden von Dollar an Subventionen und Steuererleichterungen für die Halbleiter­in­dustrie ausgeben, um »strategische Unab­hängigkeit« zu erlangen – China, die USA, die EU, Südkorea, Indien, um nur die be­kanntesten zu nennen – ist die Frage erlaubt:

Werden diese Subventionen in den nächsten Jahrzehnten ein Dauer­thema sein? Und was fehlt vielleicht noch?

Die verschiedenen »Chip Acts« – vor allem Sub­ventionen für die Halbleiterindustrie zur Förderung der lokalen Produktion – sind weltweit in vollem Gange. Subventionen, die zum Teil für F&E und Investitionen in das Ökosystem bestimmt sind, sowie massive Zuschüsse und Steuererleichte­rungen für den Bau und die Ausstattung neuer Produktions­stätten werden derzeit in Europa, den USA, Japan und einigen anderen Regionen gewährt.

In den USA beläuft sich die Gesamtsumme für die Rückholung zumindest eines Teils der Chipfertigung nach Angaben des Weißen Hauses bis 2030 auf fast 300 Milliarden US-Dollar, in Europa wird die Summe »etwas« geringer ausfallen – es gibt den Chips Act mit 43 Milliarden Euro (von denen einige Milli­arden aus früheren Programmen wiederver­wendet werden) und die Subven­tionen mehrerer Regie­run­gen für spezielle Fabrik­projekte – allein Deutschland hat mindestens zehn Milliarden Euro für Intel in Mag­de­burg und fünf Milliarden Euro für TSMC in Dresden reser­viert. Einige Milliarden Euro mehr für weitere Projekte in anderen Ländern runden die Ernsthaf­tigkeit ab, mit der die »strategische Unab­hängig­keit in der Chip­fertigung« verfolgt wird.

Zum Sinn dieser Milliarden an Steuergeldern für eine profitable Industrie (mit zugegebe­ner­maßen hohen Risiken, die in der Natur der Technologie liegen) hat nun jeder seine eigene Meinung. Ich persönlich glaube, dass eine strategische Unab­hängig­keit bei der Herstel­lung von Spitzen­chips für die EU nur dann Sinn macht, wenn wir über das notwendige geistige Eigentum (oder Unternehmen mit diesem geistigen Eigentum) verfügen, um solche Chips zu entwickeln, und einen Markt mit ausrei­chen­der kritischer Masse haben, um die hor­ren­den Investitionen zu rechtfertigen. Aber das ist hier nicht mein Thema.

Ich möchte an dieser Stelle lieber auf zwei Fragen eingehen (die zugegebenermaßen mit meiner obigen Stellungnahme zusammen­hängen):

1. Was passiert, wenn das Geld des ersten Chips-Acts (plus lokale Subventionen) aufge­braucht ist?
2. Welche Strategie verfolgt die Europäische Union in Bezug auf technologische Innova­tion im Allge­meinen?

Was passiert, wenn das Geld des ersten Chips-Acts (plus lokale Subventionen) aufgebraucht ist?

Das könnte eher früher als später der Fall sein. In den USA wurde diese Frage bereits gestellt, da die Umsetzung des US Inflation Reduction Acts mit hoher Geschwindigkeit erfolgt, und trotz einiger Verzögerungen bei großen Projekten werden die Mittel bis 2026 oder 2027 aufgebraucht sein. Wenn das euro­pä­ische Chip-Gesetz nicht in der Büro­kratie versinkt, könnte das Gleiche etwa zur gleichen Zeit oder etwas später passieren. Ist bis dahin alles geregelt und die Unab­hängig­keit erreicht? Ich weiß, das ist eine rhetorische Frage.

Anhand einer einfachen Rechnung möchte ich die Herausforderung verdeutlichen:

  • Nehmen wir an, die Halbleiterindustrie wächst von heute 550 Milliarden US-Dollar auf eine Billion US-Dollar im Jahr 2030.
  • Der kumulierte Umsatz in diesen sechs Jahren wird sich weltweit auf 5,5 Billionen US-Dollar belaufen.
  • Der Kapitalbedarf für die Chipherstellung zur Unterstützung dieses Wachstums wird im gleichen Zeitraum auf mehr als 1,3 Billionen US-Dollar steigen.
  • Wenn Europa, wie von der Kommission angekündigt, das Ziel erreichen will, 20 % des weltweiten Chipmarktes in Europa zu pro­du­zieren, ist es notwendig, dass die Unternehmen in diesem Zeitraum (ein­schließ­lich Subventionen) insgesamt zwischen 250 und 300 Mrd. US-Dollar allein für die Produktion in Europa investieren.
  • Die Unternehmen erwarten je nach Verhand­lungs­geschick und Bedeutung des Projekts Subventionen zwischen 20 und 50 %. Gehen wir davon aus, dass die Regierungen im Durchschnitt 30 % der Investitionskosten tragen werden, d.h., zwischen 75 und 90 Mrd. USD bis 2030.
  • Die derzeit gewährten Subventionen machen weniger als die Hälfte davon aus.
  • Mit anderen Worten: Bis zum Ende des Jahrzehnts könnten weitere 50 Milliarden US-Dollar an Subventionen erforderlich sein. Vielleicht sogar noch mehr.

Ich habe von CEOs der Halbleiterindustrie gehört, dass die Verwirklichung der strate­gi­schen Un­ab­hängig­keit Europas in der Halb­leiter­industrie mög­li­cher­weise mehr Unter­stüt­zung verlangt: 500 Milliarden statt 50 Milliarden US-Dollar (oder Euro); nicht nur für die Produktion, sondern für das gesamte Paket oder Ökosystem.

Angesichts der Tatsache, dass die EU-Länder entweder bereits hoch verschuldet sind (Italien und Frankreich) oder sich aus der Krise retten wollen (Deutschland), indem sie ihre Infra­struktur verfallen lassen, frage ich mich, woher diese Investitions­hilfen kommen sollen. Wir werden sicherlich in nicht allzu ferner Zukunft interessante Dis­kussio­nen über massive Kompromisse führen. Dennoch glaube ich, dass eine ernsthafte finanzielle Unter­stüt­zung absolut notwendig ist, um an der Spitze zu bleiben. Die große Frage ist, für welches Endspiel?

Wie sieht die Strategie der Europäischen Union für techno­logische Inno­va­tionen im Allgemeinen aus?

Die Halbleiterindustrie ist eine vergleichsweise kleine Industrie. Von den rund 100 Billionen Dollar, die weltweit an realen Gütern her­ge­stellt werden (ohne die heiße Luft, die die Finanzindustrie pro­duziert), machen Halbleiter etwa 0,5 % aus. Aber sie sind der Auslöser für eine Elektronik­in­dustrie, die fünfmal so viel wert ist.
Und diese Elektro­nik­in­dustrie ist wiederum Auslöser für Innovationen in allen Branchen und Lebens­be­reichen, die recht leicht 50 % des weltweiten Wohlstands ausmachen könnten.
Computer- und Kommunikationstechnologien, die etwa 2/3 des weltweiten Verbrauchs an Bauele­menten umfassen, finden nicht mehr in Europa statt. Während wir noch vor zehn Jahren Anteile in der Telekommunikation und im Mobilfunk hatten, wurde die Computer­bran­che immer von US-Unter­neh­men do­mi­niert. Und es sieht nicht so aus, als würde sich das ändern, denn Künst­liche Intel­li­genz wird zu einem Booster für die Computer- und Kommunika­tions­leistung.

Laut McKinsey und anderen Forschern wie Next Move Strategy Consulting werden die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz frühere Innovationszyklen in den Schatten stellen. Bis 2030 soll der KI-Markt ein Volumen von rund 5 Billionen US-Dollar erreichen.

Während Umsätze bei Software und An­wen­dungen (Marketing, Customer Experience) den Löwenanteil dieses gigantischen Marktes ausmachen werden, dürften die Möglichkeiten bei Hardware – Chips, Kommunikationsgeräte, Server etc. – wahr­schein­lich bei etwa 20 % des Marktes liegen, wobei KI-unterstützende Chips wie GPUs und Speicher leicht 400 bis 500 Milliarden USD oder 40 % des gesamten Halb­leitermarkts ausmachen könnten.

Abgesehen von der britischen Firma ARM Ltd, dem Erfinder der ARM-Architektur (der erfolg­reichsten Mikroprozessor- / Mikro­controller-Architektur aller Zeiten), die sich im Besitz von Aktionären aus der ganzen Welt befindet, hat Europa im Bereich der KI-Hardware wenig bis gar nichts zu bieten, was den Nährboden für eine beschleunigte Stra­tegie für KI-Software und -Anwendungen bilden könnte.

Das Schicksal Europas hängt von der Stärke seines Industrie- und Automobilsektors ab, auf den heute 20 % des weltweiten Komponenten­ver­brauchs entfallen. Während die Automobil­in­dustrie mit einem zweistelligen Wachstum bei Halbleitern eine neue Dynamik »anzu­treiben« scheint, hängt diese Dynamik von einer erfolgreichen Strategie für batterie­elektri­sche Fahr­zeuge (BEV) ab, verbunden mit großen Anstrengungen, Autos zu autonomen Fahrzeugen zu machen. Im Moment scheint das Problem darin zu bestehen, dass diese Dynamik, oder besser gesagt die Hoffnung, durch die enttäuschende Ent­wick­lung des BEV-Marktes und der Investitionen in die not­wen­dige Infrastruktur zunichte gemacht wird. Die Voraus­set­zungen, diesen Markt voranzu­treiben, um die Klimaziele bis 2035 zu errei­chen, sind vorhanden, aber die Realität wider­spricht den Prognosen. Es sei denn, alle fallen auf die billige chinesische Lösung herein, die bereits in den Seehäfen abgeladen wird. Das heißt, der Komponentenmarkt wird nicht hier, sondern in China entstehen.

Die Industrieelektronik deckt ein breites Spek­trum von Anwendungen ab, von der Auto­matisierung bis zur Energie, vom Internet der Dinge bis zur Medizin. Viele europäische Unternehmen sind hier weltweit führend, sehen sich aber einem immer aggressi­veren Wettbewerb durch chinesische Unternehmen ausgesetzt. Ironischerweise hängt die deutsche Energiewende von chinesischen Solarzellen, Windkraftanlagen oder Wärme­pumpen ab.

Auch wenn die Industrie­elek­tro­nik bei den Halblei­terlieferanten in der Regel nicht führend ist, könnte sie doch im Durch­schnitt schneller wachsen als in den letzten Jahr­zehnten und vor allem dazu bei­tragen, die vollelektrische Gesellschaft zu schaffen, von der viele europäische Verbände und Unter­neh­men sprechen (es sei denn, das meiste davon wird mit chi­ne­sischer Tech­no­logie realisiert).

Was ich damit sagen will ist, dass die EU im Besonderen und Europa im Allgemeinen keinen wirklichen Plan haben, wie sie ihre globale Wett­bewerbsfähigkeit erhalten können, und auch keine Kultur des Risikos oder der Risikobereitschaft, um in Bereichen, die in Zukunft wichtig sein werden, eine Führungsposition zu erreichen oder zu be­halten. Wir konzentrieren uns auf das, was wir gut können, und versuchen, es Schritt für Schritt zu verbessern, während sich die Welt weiterentwickelt.

Ich verstehe, dass dies eine kontroverse und schwarz-weiße Aussage ist, der viele Men­schen widersprechen mögen. Aber schauen Sie sich an, wie wir in der EU-Subventionen ausgeben: fünfmal mehr für die Land­wirt­schaft (60 Milliarden Euro) als für Hightech (12 Milliarden Euro). Microsoft gibt mehr Geld für KI-Forschung aus als ganz Europa zusammen.

Wenn wir über die zukünftige Förderung der Halbleiterindustrie sprechen – nachdem die Mittel aus dem aktuellen Chip Act aufge­braucht sind – müssen wir zunächst verstehen, nicht wo wir nicht weiter vo­ran­kriechen oder uns in die Bedeu­tungs­losigkeit regulieren können, sondern wo die Musik global spielen wird und was es braucht, um in diesem Orchester ein dominantes Instrument zu spielen. Das Stück, das gespielt wird, ist sicher­lich KI Computing. Und jeder Euro, der der Kom­po­nenten­industrie in Form von direk­ten Subventionen oder Steuerer­leich­terungen zur Verfügung gestellt wird, sollte mit weiteren fünf Euro für KI und verwandte Tech­no­logien auf­ge­stockt werden. Mindestens!

Und warum? Stellen Sie sich unsere Welt in 50 Jahren vor – vorausgesetzt, es gibt sie dann noch und wir haben sie nicht ruiniert. Was glauben Sie, wird die vorherrschende Tech­no­logie sein, um alle Systeme, Ökosysteme, Netz­werke, Steue­rungen, Sensoren und Daten zu kontrollieren und all dem einen Sinn zu geben?

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