Applikationsunterstützung in der Distribution
06. Februar 2024
Darfs noch etwas mehr IP sein?
Die Entwicklung der Technologiekomplexität in der Elektronikindustrie dynamisch zu nennen, wäre eine schamlose Untertreibung. Im Zeitalter hochkomplexer KI-Anwendungen fragt sich der Laie:
»Wie kommt eigentlich ein Ingenieur mit sowas zurecht? Zum Beispiel ein Applikationsspezialist in der Distribution? Und wie sieht dessen Anforderungsprofil in der Zukunft aus?«
Die Distribution von Komponenten war Zeit ihrer Existenz kein reiner Handel im klassischen Sinn, sondern immer von technischer Kompetenz begleitet. Kein Wunder, kamen doch die Gründer der ersten Bauelemente-Distributoren entweder von den Herstellern selbst oder sie waren Techniker, Ingenieure oder Autodidakten mit großer Begeisterung für die noch junge Technologie »Elektronik«.
Wir müssen aber nicht bis an die Anfänge der Elektronik oder der Distribution zurückgehen, um zu definieren, wie technisch versiert Distribution eigentlich ist. Einer der ersten als reiner Halbleiterspezialist gegründeter Distributor, die heute zum Avnet-Konzern gehörende Münchner EBV Elektronik, möge als Beispiel dienen, was die Distribution drauf hatte. Gründer Erich Fischer und sein »Co-Pilot« Peter Gürtler, später selbst legendärer EBV-Chef, stellten als Verkäufer nur Techniker und Ingenieure (größtenteils mit Anwendungserfahrung beim Kunden) ein, die das, was sie verkauften, haarklein erklären konnten und auch die Anwendungen des Kunden weitestgehend verstanden, um als »trusted advisor« gelten zu können.
Der FAE als Welterklärer?
Andere Distributoren, teils früher, aber meistens später gegründet, verfuhren ähnlich. Nur damals war von anderen Komplexitäten als heute die Rede. Vom simplen 4-Bit-Mikrocontroller mit wenigen zehntausend Transistoren und 750 kHz Taktfrequenz im Jahr 1972 zum Multicore-Prozessor mit 100 Milliarden Transistoren und über 5 GHz Taktfrequenz im Jahr 2022 sind grade mal 50 Jahre vergangen. Die Innovationsexplosion, die Globalisierung des Marktes und damit auch die Änderung der Geschäftsmodelle im Bauelementevertrieb änderten auch die Art und Weise, wie technische Unterstützung funktioniert, wo sie funktioniert und wie sie sich möglicherweise in den nächsten Jahrzehnten verändern kann.
Zwei prägende Aspekte der technischen Unterstützung in den letzten 30 Jahren waren der »Field Application Engineer« (FAE) und das Internet. Einer der Gründe, warum Distributoren begannen, Anfang der 90er Jahre Applikationsspezialisten einzustellen, war die zunehmende Komplexität von Produkten – RISC-Prozessoren, Programmierbare Logik, Smartpower-ICs und viele andere – ein anderer, der Drang der Hersteller, exklusive technische Vermarktungs- bzw. »Demand-Creation«-Ressourcen zur Bedingung eines Franchise-Vertrages zu machen. Das führte so weit, dass Distributoren bisweilen pro 2 Verkäufer einen FAE beschäftigten, um Projekte zu gewinnen und Design-Registrierungen bei den Herstellern vorzunehmen, die dies mit relativ hohen Design-Boni belohnten.
Zu dieser Zeit waren technische Basisinformationen nur über Datenbücher und -Blätter verfügbar, die Standardausrüstung der FAEs bei Kundenbesuchen. Dieser traf auf Kunden, die mit der Fülle der technischen Innovationen haderten und dankbar für Entscheidungshilfen waren. Zahlreiche Technologieseminare und Roadshows, veranstaltet von Distributoren, mit Unterstützung der Hersteller, die keinen Sales-Pitch ausließen, erfreuten sich regen Besuchs, manche gar waren als richtige Spezialmessen mit weit über tausend Besuchern so erfolgreich wie manche Messe heute nicht mehr (zumindest, wenn es um die Anzahl der Geschäftsabschlüsse ging).
Das Internet als Basis-FAE
Das Internet hat all dies radikal geändert. Spätestens ab 2000 waren Basisinformationen wie Datenblätter und Anwendungsbeispiele online verfügbar, anfangs selektiv, später vollumfänglich. Manche Herstellerwebseiten sind ausgebaut wie kleine Online-Universitäten mit Wissen rund um Produkte und Anwendungen in jedweder audiovisuellen Form, das seinesgleichen sucht. Ein Ergebnis war, dass viele Entwickler bei den Kunden heutzutage bei Projektstart auf einem sehr hohen Basisniveau operieren, was Halbleiterprodukte betrifft.
Welche Folgen hatte das für die Distribution und den technischen Support? Nun, wie fast alle anderen Boni, die der Distribution einst als angestammtes Recht galten, wurden auch die Design-Boni weitgehend zum Zwecke der Profitvermehrung der Hersteller zunehmend einkassiert (hier folgt eine Reihe von wüsten Beschimpfungen, die der Autor dem Leser nicht zumuten wollte…), was es notwendig machte, die Rolle der technischen Unterstützung durch Distributoren neu zu definieren – es gab auch Kundengruppen (EMS) bzw. Auftragssegmente (Fullfilment), bei denen Hilfe durch FAEs nicht notwendig war.
Vertikales Fachwissen und Sanity-Check
Die Redefinition der technischen Unterstützung fing an mit einer deutlichen Spezialisierung in der technischen Kompetenz, weit über die Produktkenntnis hinaus bis zur Durchdringung mancher Applikationsbereiche auf der Systemebene, speziell bei architektur- und softwaregetriebenen Produkten wie Prozessoren, Mikrocontroller oder FPGAs: Betriebssysteme (CE und Linux), Echtzeitbetriebssysteme (RTOS), Softwarekernels, Java-Programmierung gehörten recht schnell zum Standardrepertoire der breiter aufgestellten FAEs, andere wiederum unterstützen die Kunden vertikaler Segmente mit Fachwissen rund um Automotive, Medical, Smart-City, IOT und vielen mehr. Zu Hilfe kam dabei ein deutlich verbessertes Informationsmanagement, Projektdatenbanken und Big Data, die aus dem Meer an vorhandenem Wissen wiederverwertbare und multiplizierbare Informationen für Kunden machten und heute noch tun.
Der Produktspezialist existiert nach wie vor in Bereichen, die extrem komplex sind: Analog, Mixed-Signal, HF, aber auch Systems-on-Chip. Als Schwerpunkt der Arbeit erweist sich hier die Beratung über Neuheiten auf den Hersteller-Roadmaps, lange vor dem NPI-(New-Product-Introduction-)Prozess, was die Designsicherheit vieler Kunden deutlich ins Positive befördert. Fokuskunden kennen den i.MXRT1180 von NXP schon 1 Jahr vor dem NPI-Start, nicht nur, weil sie die vorläufigen Datenblätter schon im Internet gescannt haben, sondern weil der Distributions-FAE für den Sanity-Check zur Verfügung steht.
Wenn der eine (oder auch der andere) Leser jetzt sagt: »Ja, das sind doch nur wenige Paradebeispiele, die sich in der Breite nicht wiederfinden…«, antwortet der eine (oder auch der andere) Autor zurück: »Warum werben dann so viele Hersteller die in der Distribution ausgebildeten Ingenieure für viel Geld ab, um sie in ihre eigenen technischen Support-Teams einzureihen?« Die Aufzählung von Beispielen würde den Rahmen des Artikels sprengen, und wir wollen ja nicht angeben.
System-FAE und IP-Berater?
Und wohin geht die Reise nun in 2024 and beyond? Da reicht ein kurzer Blick auf die technische Entwicklung der Halbleiterindustrie und dem riesigen Fokus der Anwenderindustrie auf die Software. Zunächst die Hardwareentwicklung: Die Neuheit in nahezu jeder künftigen Hardwarearchitektur werden KI-Kerne sein, die den normalen Mikrocontroller oder Prozessor ergänzen – die ARM-Roadmap zeigt dies ganz klar auf. Wer hier beraten will, muss KI verstehen und was sie beim Kunden an »use cases« (Anvwendungsfällen) sinnvoll unterstützen kann, sowohl direkt am Einsatzort (Edge-AI) als auch in zentralen Systemen. Die Augenhöhe mit des Kunden Applikation ist hier erfolgskritisch.
Ein weiterer Schritt sind Systems-in-Package (Chiplets). Heute noch die Bleeding-Edge-Lösung für Data-Center-KI, wird deren Anwendung vor Automotive- und Industrie-Applikationen nicht halt machen, zumal die horrenden Kosten für Chiplet-Designs weiter runterkommen, durch die Entkopplung teurer von weniger teuren Prozessschritten und weil das Packaging selbst besser und kostengünstiger handhabbar werden wird. Für FAEs bedeutet dies jedoch eine Auseinandersetzung mit Systemdesign und Software auf einer höheren Komplexitätsstufe als bisher.
Auch Ansprechpartner und Produktmix ändern sich: Der Softwareingenieur beim Kunden trifft mehr Hardwareentscheidungen, zumal Software nicht selten 60 % der Systemkosten ausmachen oder gar übersteigen; oft stehen zwischen Kunden und Distributoren (und auch Herstellern) Entwicklungsdienstleister, die überzeugt werden wollen; von Seiten der Chiphersteller wird, je mehr Module (SOMs) oder Chiplets (SIPs) vermarktet werden, immer mehr auf den Verkauf von IP und damit eine Art Abo-Modell gesetzt.
Erfolgsfaktor Chatbot-FAE?
Fazit: So die Ingenieure in der Distribution (wäre ich Ingenieur, würde ich die technische Vielfalt in der Distribution immer bevorzugen) verbleiben, was angesichts des drohenden Ingenieurmangels nicht unbedingt sicher ist, würde die FAE-Mannschaft aus mehr Spezialisten bestehen, vor allem Technologiespezialisten (Power, Analog, FPGAs) und Softwareexperten (KI und Machine Learning, System-FAEs mit Betriebssystemkenntnissen und reine Vertikalspezialisten für große Geschäftsbereiche wie Automotive, Medical oder auch Motor-Control, die mehr Business-Development oder Strategieberatung betreiben als reinen technischen Support und eventuell auf anderen Managementebenen beim Kunden anklopfen müssen als bei Hardwareentwickler.
Ein weiterer Kollege ist der Chatbot-FAE. Bisher würden Ingenieure wohl die Augenbrauen hochziehen, wenn Sie Beratung einer KI in Anspruch nehmen würden, jedoch sehe ich diese Schwelle bröckeln, je besser die dahinterliegende KI in der Handhabung technischer Support-Fragen wird und je drängender der Ingenieurmangel wird. Hersteller entwickeln an solchen Lösungen für ihre teils hervorragenden Websites, weil sie es sich leisten können und weil dies ihre Exklusivität beschützt. Online-Distributoren machen dies auch, weil sie es sich auch leisten können und der Schritt nach oben in der Nahrungskette vom Kleinstückzahlverkauf zur Volumendistribution verführerisch (wenn auch schwierig) ist. Die großen globalen Volumendistributoren MÜSSEN dies machen, weil es einige der wenigen Differenzierungsmöglichkeiten aufrechterhält. Das gilt im Übrigen auch für die Entwicklung eines KI-gestützten Supply Chain Beraters. Hoffentlich bald, denn hier liegt das Geld der bisher versäumten Digitalisierung auf der Straße.
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